PROLOG


Der Stoß vor die Brust kam überraschend. Instinktiv bewegte sich sein rechtes Bein nach hinten, um Halt zu finden. Doch sein Fuß ertastete nur gnadenlose Leere. Was kein Wunder war, befand er sich doch weit oben auf der Treppe. Panisch mit den Armen rudernd, bemühte er sich, das Gleichgewicht zu halten. Vergebens.
„Hilf mir!“, rief er drängend und streckte einen Arm aus. „Schnell! Halt mich fest!“
Doch die Hände, von denen er sich Hilfe erhoffte, hoben sich nicht. Ballten sich stattdessen zu Fäusten. Fassungslos wanderte sein Blick nach oben, blieb an dem Gesicht hängen, das ihn beobachtete. Die Augen darin waren schmaler als sonst, die Lippen nicht länger geschwungen,
sondern zusammengepresst. Ein Strich anstelle eines Mundes. Ihm sah der personifizierte Hass entgegen.
In dieser Sekunde verlor er den Kampf gegen die Schwerkraft. Der Versuch, sich abzustützen, misslang. Die Quittung dafür war ein stechender Schmerz in seinem Handgelenk. Schon verprügelten ihn hartkantige Stufen. Sie malträtierten sein Steißbein, den Rücken, die Schultern. Er wollte
seinen Kopf schützen, konnte aber nicht mehr verhindern, dass dieser gegen eine Stufe prallte. Er stöhnte auf, sah tiefe Schwärze, dann eine Farbenexplosion. Sterne, Funkenregen, ein Feuerwerk.
Die bunten Punkte verblassten, und die Dunkelheit wich. Er lag nun still, war am Fuße der Treppe angelangt. Die Stufen hatten ihn zermalmt und ausgespuckt. Vorsichtig öffnete er die Augen. Betrachtete seine Umgebung. Alles wirkte verschwommen, die Umrisse flossen ineinander, wurden aber langsam schärfer. Er wollte seinen linken Fuß, der auf der untersten Stufe liegen geblieben war, herunterziehen, konnte das Bein aber nicht bewegen. Auch die Arme verweigerten ihren Dienst. Sein Hinterkopf fühlte sich an, als hätte er einen Axthieb abbekommen, und sein rechtes Handgelenk pochte unangenehm. Eigentlich tat ihm alles weh.
Seine Lider wurden schwer. Er wollte schlafen, nur schlafen. Keinen Schmerz mehr spüren. Dann fielen seine Augen zu, und ihn umfing gnädige Dunkelheit. Ein lauter werdendes Pfeifen in den Ohren und ein Dröhnen in seinem Schädel weckten ihn auf. Er wollte die Augen öffnen, doch seine Lider weigerten sich, sich zu heben. Und jeder Versuch, sich zu bewegen, glich einer Tortur. Also verharrte er still in Finsternis und wartete darauf, dass sich jemand um ihn kümmerte.
Wie aus weiter Ferne vernahm er eine Stimme. „Er ist tot, ich bin sicher.“
Tot! So ein Unsinn, er war nicht tot. Er mochte sich zwar fühlen, als hätte man ihn durch einen Fleischwolf gedreht, aber er lebte, ohne jeden Zweifel.

„Tu es einfach!“, sagte die Stimme.
Einige eindringliche, aber unverständliche Sätze später verstummte sie, und Schritte näherten sich. Er musste ein Lebenszeichen von sich geben. Jetzt gleich. Also versuchte er, seinen Mund zu öffnen, aber offenbar hatte jemand seine Lippen aneinandergeklebt. Mit aller Kraft versuchte er, sie zu trennen. Langsam und so zögernd wie die Schalen einer Muschel löste sich die Oberlippe von der unteren. Erleichterung durchflutete
ihn, wich jedoch Ernüchterung als er merkte, dass er kein Wort herausbrachte. Keinen verdammten Ton!
Also versuchte er, die Lider anzuheben. Leider fühlten sie sich an wie Vorhänge, in deren Saum Bänder mit Bleiperlen eingearbeitet waren, damit sie glatt und schwer herunterhingen.
Sein ganzer verdammter Kopf ließ ihn im Stich.
Wut und Enttäuschung machten sich in ihm breit. Aber so leicht gab er nicht auf. Er schaffte doch immer alles, was er sich vornahm!
Also konzentrierte er sich auf seine Hände. Die rechte Hand fühlte sich taub an, sie rührte sich nicht. Seine linke jedoch konnte er spüren. Und so versuchte er, seinen Fingern mit aller Energie, die er aufbringen konnte, Leben einzuhauchen.
Und es funktionierte! Es war nur ein Zittern, aber das reichte aus.
Die Schritte kamen immer näher. Hielten abrupt inne.
„Oh, mein Gott!“
Die Schritte entfernten sich eilig. Gewiss, um Hilfe zu holen.

Er lächelte. Glaubte zumindest, dass seine Mundwinkel sich auseinanderzogen. Ob sie es wirklich taten oder sein Gesicht noch immer jede Mitarbeit verweigerte, wusste er nicht. Es war ihm auch egal, denn nun strömte Zuversicht durch seine Adern. Alles würde gut werden.
Er spürte, dass die Bewusstlosigkeit erneut ihre Arme nach ihm ausstreckte. Willig ließ er sich umklammern und in ihre Tiefen hinabziehen.
Als sein Kopf sich plötzlich vom Boden hob, tauchte er wieder an die Oberfläche des Bewusstseins, denn diese Bewegung tat brutal weh. Ein Ton des Protestes entrang sich seiner Kehle, ging jedoch in einem merkwürdigen Knistern und Rascheln unter. Er kannte das Geräusch,
konnte es bloß nicht zuordnen. Irgendwas geschah mit ihm. Nur was?
Vermutlich war die Hilfe gekommen. Der Notarzt. Er würde alles in Ordnung bringen. Ein paar Stunden oder Tage noch, dann würde er an die letzten qualvollen Minuten zwar mit einem Schaudern, aber auch mit Erleichterung, sie überstanden zu haben, zurückdenken.
Das Atmen wurde mühsam. Etwas drückte seinen Hals zusammen. Schnürte ihm die Kehle zu. Was zum Teufel ...?
An seinen Lippen klebte etwas Widerliches. Atmete er aus, verschwand es, kehrte jedoch mit jedem mühsamen Einatmen unerbittlich zurück, um immer länger zu verharren.
Die Bleibänder in seinen Lidern waren verschwunden. Er riss die Augen auf, konnte jedoch nichts erkennen. Nur hellen, undurchdringlichen Nebel.

Ein Hilfeschrei formte sich in seinem Inneren, kroch die verengte Kehle hinauf, erreichte seine Zunge, dieses nutzlose Ding, verkümmerte und erstarb. Er wollte sich wehren. Sich aufrichten, befreien, losreißen. Seine Arme und Beine gehorchten nicht. Als wären sie nicht mit Muskeln und Sehnen, sondern mit gekochten Spaghetti gefüllt. Sein Kopf dagegen fühlte sich an, als wäre er ein knallroter Ballon, kurz vor dem Zerplatzen.
Farben explodierten vor seinen Augen. Rot, Gelb, Blau, Grün.  Alles war bunt. Er verwandelte sich in einen beschissenen Kindergeburtstag!
Wie hatte er seine Geburtstage damals gehasst! Seine Eltern hatten alles getan, damit er glücklich war, trotzdem konnte er diese Feiern nie genießen. Wie ein Video im Zeitraffer sah er eine mit Kerzen geschmückte Torte, lachende Gesichter, Girlanden, lustige Hüte und farbenprächtig verpackte Geschenke. Doch er verband keine Glücksgefühle mit diesen Bildern. Nur Zorn und das Gefühl, betrogen worden zu sein.
Das eklige Zeug klebte immer noch an seinen Lippen, saugte zugleich die Luft aus seinen Lungen. Ihm war, als küsse er den Tod.
Dann verschmolzen die bunten Farben, wurden zu einer dunklen, lilagrauen Masse.
Schließlich verschwand auch sie, und nichts blieb mehr übrig.

 

 

 

LESEPROBE ENDE

Leserstimmen

C. Scheja

Der Roman hat all das, was man sich von einem guten Krimi wünscht. Zum einen sind die Beschreibungen so, dass man sich die Umgebung und die Figuren gut vorstellen kann, ohne dass die Erklärungen zu langatmig werden. Zum anderen nimmt sich die Autorin Zeit, die Charaktere einzuführen und dabei auch interessante Motive einzubringen, die eine Tat durchaus plausibel machen könnten?
So kann man als Leser sehr lange mit rätseln und sich auch auf falsche Spuren locken lassen, bis sich zum Ende hin viele Andeutungen nach und nach zusammen fügen und ein rundes Bild ergeben.
Ermittler wie auch mögliche Täter werden sehr lebendig beschrieben und sind gut vorstellbar, zudem nimmt man Anteil an deren persönlicher Geschichte. Die Dialoge sind stimmig und wirken nicht aufgesetzt, was die Authentizität vertieft. Aber auch Zeit- und Lokalkolorit stimmen und sorgen für zusätzliche Atmosphäre.
Einen Augenblick mag man zwar denken, dass die Auflösung etwas an den Haaren herbeigezogen ist, tatsächlich erkennt man als aufmerksamer Leser aber auch, dass sie gut vorbereitet wurde, allerdings lange im Hintergrund bleibt, um die Spannung aufrecht zu erhalten. Alles in allem legt man das Buch am Ende zufrieden beiseite, denn fast alle Fragen wurden zufriedenstellend geklärt und die Figuren haben sich angenehm weiter entwickelt.

Das macht „List und Lüge“ zu einem unterhaltsamen und kurzweiligen Kriminalroman mit sympathischen Ermittlern und glaubwürdigen Verdächtigen, der zugleich noch jede Menge Zeit und Lokalkolorit besitzt und bis zum Ende abwechslungsreich erzählt wird.

***

 

Jana88

Der Krimi ist toll aufgebaut. Lange Zeit hatte ich keine Ahnung, wer der Täter sein könnte. Jeder hätte es gewesen sein können.
Dann kam eine vage Ahnung und zack, die unglaubliche Enthüllung. Eine wahnsinnig durchdachte Konstruktion, die den Mord bzw. den Täter dann vertuschen sollte, und durch einen einzigen kleinen Fehler kam alles raus. Sowas muss man sich als Autorin erstmal ausdenken, klasse.
Die Einblicke in Andresens Gefühlsleben kamen ja in den vorigen Krimis immer mal ein bisschen zum Vorschein. Und in diesem erhält man tiefen Einblick dahingehend, wie weich sein Herz doch ist. Ich finde diese Seite an ihm toll, auch wenn es natürlich unter traurigen Umständen zum Vorschein kommt.
Aber lesen Sie selbst!
Ein rundum gelungener Krimi, gut durchdachter Fall, ein bisschen Witz, ein bisschen Tragik und alles in die jetzige Zeit mit Masken und Impfwichtigkeit gepackt.
So wie die letzten Fälle der Kommissare ist dieser absolut zu empfehlen!

***

 

Fred K.

WOW, was für ein Krimi........., ich hab ihn in ein paar Tagen verschlungen! Sehr schön beschriebene Charaktere, eine spannende Geschichte mit einem sehr überraschenden Ende.......- perfekt !!!
Außerdem gefällt es mir sehr gut das alles an für mich bekannten und vertrauten Orten spielt ! Wirklich seeeeeeeeeeeeeehr gut :-)