PROLOG

 

 Er saß in einem Restaurant als er etwas im Rücken spürte. Als stieße jemand eine Nadel zwischen seine Schulterblätter. Im nächsten Moment war es schon wieder vorbei.

 Er ignorierte den Stich. Konzentrierte sich auf seine Begleitung, auf das Kerzenlicht und die leise Musik. Die Blondine ihm gegenüber strahlte ihn an, ihre hinreißenden Augen funkelten.

 Er lächelte und hob sein Glas mit Rotwein. »Ich bringe dich ganz groß raus«, versprach er. »Du bist das größte Talent im Verein. Wir sollten in Zukunft viel Zeit miteinander verbringen.«

 »Ich hoffe, ich werde dich nicht enttäuschen«, säuselte sie und beugte sich leicht vor.

 Er legte seine Hand auf ihre. »Das wirst du nicht.«

 Dieses Mädchen war genau seine Kragenweite. Er stierte in ihren glatten, üppigen Ausschnitt. Stellte sich vor, wie sie im Bett sein würde. Ob sie es schon einmal getan hatte? Schließlich war sie erst sechzehn. Bei dem Gedanken daran, dass er derjenige sein könnte, der sie entjungferte, spürte er seine Hose eng werden.

 Just in diesem Moment stach ihn erneut etwas in den Rücken. Nur ganz leicht, es war nicht mehr als ein kleiner Piks, dennoch hatte er etwas Beängstigendes. Bedrohliches. Seine Handflächen begannen unangenehm zu kribbeln. Sein Puls beschleunigte sich. Irgendetwas stimmte nicht. Von einer Sekunde zur anderen schwitzte er, als säße er mit Wintermantel in der Sauna.

 Sein Blick fiel auf die Kerzen. Sie schienen heller und heißer zu brennen als zuvor. Die Flammen taten in seinen Augen weh.

 »Uh, ist dir auch so warm?«, fragte Blondie und begann, verführerisch langsam ihre Bluse aufzuknöpfen. Er riss sich zusammen. So ein leichter Temperaturanstieg würde ihn doch nicht davon abhalten, sich auf die Kleine und ihren Striptease zu konzentrieren. Als sie den seidigen Stoff von ihren Schultern schob und einen weißen Spitzen-BH enthüllte, verschwamm das Bild und verblasste schließlich.

 Es war ihm gleich. Denn vom Rücken aus breitete sich ein Schmerz in seinem Körper aus, dessen Heftigkeit ihm den Atem raubte. Seinen Kopf traf es am meisten, er schien explodieren zu wollen. Jemand musste ihn in einen Schraubstock gesteckt haben. Er kniff die Augen zusammen und umklammerte seine hämmernden Schläfen. Mühsame Atemzüge dröhnten in seinen Ohren. Es klang, als säße Darth Vader in seinem Schädel. Das würde auch den Metallgeschmack in seinem Mund erklären.

 Als er zaghaft die Lider hob, blendeten neongrüne Zahlen seine Netzhaut. Zunächst tanzten sie vor seinen Augen, doch schließlich konnte er sie erkennen. Null, Drei, Eins, Zwei.

 Vorbei.

 Er befand sich keineswegs mit einer hübschen Blondine in einem Restaurant. Es war Nacht, zwölf Minuten nach drei, und er lag bäuchlings in seinem Bett. Allein.

 Seine nackte Haut war nass vom Schweiß, klebte am Laken. Als er versuchte, sich umzudrehen, schoss erneut eine Welle des Schmerzes durch seinen Leib. Er stöhnte und sank wieder zurück. Spürte, dass sein Hals und seine Zunge anschwollen.

 »Endlich ist der Tag der Abrechnung gekommen, du verdammtes Arschloch!«

 Wer war das? Er blinzelte verwirrt in die Richtung, aus der die Stimme gekommen war, versuchte angestrengt, etwas zu erkennen. Vergeblich, es war zu dunkel. Seine bebenden Finger suchten nach dem Schalter der Nachttischlampe. Fanden ihn. Er drückte die Taste und vor seinen Augen explodierte die Sonne. Rasch kniff er die Lider zu. Konnte neben Darth Vaders rasselndem Atem hören, dass die Schlafzimmertür geschlossen wurde.

 Von wem, verdammt?

 Er grübelte nicht länger darüber nach. Sein Denken kreiste einzig darum, Luft zu holen, ohne dabei vor Schmerz verrückt zu werden. Auch Schlucken wurde zur Anstrengung. Seine Kehle wurde immer enger.

 Er versuchte, sich auf den Rücken zu drehen, um freier atmen zu können. Es dauerte quälend lange. Jede Bewegung tat so weh, als lägen sämtliche Nerven bloß. Schließlich gelang es, doch hinterher war er erschöpft wie nach einem zweistündigen Intensiv-Training.

 Eine Hand auf die wogende Brust gepresst öffnete er ein weiteres Mal blinzelnd die Augen. Zunächst erkannte er nur verschwommene Umrisse, registrierte aber, als er sich an die Helligkeit gewöhnt hatte, dass sich außer ihm niemand im Zimmer befand. Er war allein. Die Stimme hatte er wohl ebenso geträumt wie das Dinner mit der sexy Blondine.

 Doch nun drang ein sehr realistisches Brummen an seine Ohren. Es klang wie ein Mini-Motor. Wurde leiser, dann wieder lauter. Er konzentrierte sich, hörte genauer hin. Zwei Mini-Motoren. Oder drei?

 Und dann erkannte er, was diese Geräusche zu bedeuten hatten. Eine eiskalte Welle der Angst überrollte ihn. Die Stiche in seinem Rücken. Die Kurzatmigkeit, das Herzrasen. Die Übelkeit erregenden Schmerzen und das merkwürdige Brummen.

 Bienen! Verflucht, ich muss sofort hier raus!

 In der Kommodenschublade im Flur lag sein Notfallset. Von Schmerzen gepeinigt schlug er die Decke zur Seite, kämpfte sich auf die Füße und schleppte sich mühsam zur Tür, während ihm der Schweiß von der Stirn in die Augen lief. Die paar Schritte konnte er schaffen. Musste er schaffen! Dann würde alles wieder gut werden.

 Er drückte die Klinke nach unten.

 Die Tür blieb zu. Ungläubig rüttelte er an dem Griff. Verdammt! Wieso …?

 War es doch kein Traum gewesen, dass jemand neben seinem Bett gestanden hatte? Das Geräusch der sich schließenden Tür fiel ihm ein.

 »Hallo? Mach auf!«, rief er mit schwacher Stimme. »Schnell! Bitte, ich …«

 Seine Knie wollten nachgeben. Er klammerte sich an den Türgriff und rang röchelnd um Atem. Seine schweißnasse Hand rutschte von der Klinke. Scheiße! Ich brauche mein Notfallset. Sofort. Sonst … Er kniff die Augen zusammen und weigerte sich, den Gedanken weiterzuspinnen. Wer auch immer in seiner Wohnung war, er erlaubte sich einen Scherz und würde ihn gewiss gleich befreien.

 Vorsichtig lehnte er den Kopf gegen das kühle Holz der Tür. Horchte auf Geräusche, doch von der anderen Seite kam nichts als tödliche Stille.

 Er wollte klopfen, um Hilfe rufen, konnte jedoch weder Arm noch Stimme heben. Er, das sportliche Kraftpaket, war von einer Sekunde zur anderen hilflos wie ein Neugeborenes.

 Wenn sein nächtlicher Gast ihn in Panik versetzen wollte, war ihm das prächtig gelungen. Aber irgendwann war es genug. Es reicht, wollte er rufen, du hast gewonnen. Mach die Tür auf! Doch aus seinem Mund kam nur ein unartikuliertes Gurgeln.

 Sein Herz donnerte gegen den Brustkorb, als wolle es ihn sprengen. Er bekam kaum noch Luft. Ihm blieb nicht mehr viel Zeit, das spürte er.

 Seine Rettung lag in einer Schublade, nur wenige Schritte entfernt, und war doch unerreichbar. Es sei denn, der Fremde mit dem seltsamen Humor hatte sich endlich genug amüsiert und machte die Tür auf. Sonst war es gleich vorbei mit ihm, und der Gedanke war verrückt. Er war jung, gesund, attraktiv – er wollte leben!

 Tag der Abrechnung, dröhnte es plötzlich in seinem Kopf. Tag der Abrechnung …

 Ihm wurde speiübel, als der Sinn dieser Worte sein Gehirn erreichte. Dies hier war kein schlechter Scherz, sondern eine ernste Sache. Alle Puzzlestücke ergaben auf einmal ein Bild. Ein Bild des Grauens, bestehend aus drei Teilen: Einer unbekannten Stimme, so kalt, als wäre sie mit Eiswasser getränkt, Bienen in seinem Schlafzimmer, obwohl er stets bei geschlossenem Fenster schlief, und einer Schlafzimmertür, die sich nicht öffnen ließ.

 Jemand war hier und dieser Jemand wollte ihn töten. Als dieser absurde Gedanke sich in seinem Hirn manifestierte, trieb er Tränen der Verzweiflung in seine Augen. Tränen, die ungehindert über seine Wangen rannen, weil er nicht einmal einen Arm heben konnte.

 Warum? Wer bist du? Wieso ich?

 Eine weitere Schmerzwelle jagte durch seinen Körper, malträtierte seinen Schädel. Seine Beine zitterten, wurden kraftlos wie zuvor die Arme. Die Knie knickten ein wie Streichhölzer. Vergeblich japste er nach Luft, ihm schwindelte. Das Muster des Teppichs raste auf ihn zu, wurde immer größer.

 Dann wurde es mit einem Mal dunkel und er spürte nichts mehr.

 

 

KAPITEL 1

 

 Lutz Weichert verspürte eine Euphorie wie schon lange nicht mehr, als er den Raum betrat. Sein Kollege, Hauptkommissar Carsten Andresen, sah von den Unterlagen auf seinem Schreibtisch hoch. »Sie grinsen wie ein Honigkuchenpferd«, stellte er fest. »Dann ist es jetzt offiziell?«

 »Allerdings.« Lutz Weichert nippte zufrieden an dem Ingwertee, den er sich auf dem Rückweg ins Büro besorgt hatte. »Nach Ihnen durfte nun auch ich eine Stufe in der Hierarchie aufsteigen.« Er ließ sich auf der Kante seines Schreibtischs nieder. »Kriminaloberkommissar«, murmelte er, die mittlere Silbe besonders betonend. Der Klang dieses Wortes verströmte eine noch angenehmere Wärme als der heiße Becher in seinen Händen.

 Andresen erhob sich schwungvoll aus seinem Bürosessel, was angesichts seiner Größe von knapp zwei Metern keine geringe Leistung war, und hielt ihm seine Hand entgegen. »Ich gratuliere Ihnen. Verdient ist verdient.«

 Weicherts Finger verschwanden fast in der kräftigen Pranke seines Kollegen. Er zuckte zusammen und presste ein »Danke sehr« hervor.

 »Darauf müssten wir eigentlich anstoßen«, meinte Andresen, Weicherts Hand loslassend, der sie vorsichtig zur Faust ballte und wieder öffnete. Nichts gebrochen, stellte er fest. »Anstoßen? Ach, wissen Sie, ich …«

 »Aber nicht mit diesem ekligen Gesöff.« Andresen warf einen abschätzigen Blick auf den Becher, den Weichert in der linken Hand hielt.

 »Was haben Sie bloß gegen Ingwertee?«, fragte er. »Er ist bekömmlich, ausgesprochen gesund und -«

 »… stinkt gotterbärmlich«, vollendete Andresen naserümpfend den Satz. »Nee, nee, ich will ein schönes, dem Anlass angemessenes Feierabendbier. Sie dürfen mich also in die Hansen’s Brauerei einladen.«

 »Nun ja, ich verdiene jetzt zwar ein kleines bisschen mehr, aber andererseits …«

 »Was ist denn hier los?«

 Die beiden Kommissare wandten die Köpfe zur Tür. Mirja Sommer, die junge Kommissarsanwärterin, stand im Rahmen und schaute neugierig von einem zum anderen. Wie immer trug sie eine knallenge Jeans, diesmal in Weiß, mit kunstvoll eingearbeiteten Schlitzen, die bei Lutz Weichert den Eindruck erweckten, das gute Stück sei einem durchgeknallten Schneider auf Speed in die Hände gefallen. Unversehrt dagegen war das T-Shirt in verwaschenem Dunkelgrau, auf dem die berühmte Rolling-Stones-Zunge prangte, garniert mit Glitzersteinchen. Mirjas kurzes schwarzes Haar, das am Scheitel frech in die Höhe stand, passte perfekt zu ihrem schmalen Gesicht mit den hohen Wangenknochen – und zu dem kleinen silbernen Ring in ihrer Nase, an den Weichert sich wohl nie gewöhnen würde.

 »Unser lieber Kollege trägt ab Juli – also schon in zwei Tagen – offiziell den Titel Kriminaloberkommissar und darauf wollen wir anstoßen«, erklärte Andresen und rieb sich voller Vorfreude die Hände. »Begleiten Sie uns?«

 Lutz versuchte noch einmal, zu intervenieren. »Äh … Was ich eben sagen wollte, ich denke nicht, dass …!«

 »Herzlichen Glückwunsch, Herr Oberkommissar«, schnitt Mirja ihm das Wort ab und schüttelte mit einem breiten Strahlen seine Hand, ehe sie Andresens Frage beantwortete. »Tja, eigentlich würde ich gerne, aber Philipp holt mich jeden Moment ab. Darf er denn auch mit?«

 Andresen nickte. »Klar, wieso nicht? Ich rufe gleich mal Daniela an. Sie hat neulich erst gesagt, dass sie schon so lange nicht mehr in der Hansen’s Brauerei war, dabei mag sie das Bier dort so gern. Außerdem ist Antonia an diesem Wochenende bei ihrem Vater.« Er griff nach dem Telefonhörer und wählte.

 Lutz Weichert stand stumm daneben. Aus einem erzwungenen Feierabendbier mit seinem Kollegen war innerhalb von dreißig Sekunden eine Großveranstaltung geworden, die er finanzieren sollte. Dabei hasste er überflüssige Geldausgaben wie die Pest. Und wie er seinen Kollegen kannte, würde es nicht bei einem Bier bleiben.

 Er spürte jedoch instinktiv, dass ein Veto an Andresen abprallen würde wie ein frisch aufgepumpter Handball an einer Backsteinmauer. Also fügte er sich leise seufzend in sein Schicksal.

 Wenn jedoch seine Kollegen ihre Partner mitnahmen, wollte er nicht allein daneben sitzen. Auf eine Person mehr oder weniger kam es nun auch nicht mehr an. Während also Andresen seine Lebensgefährtin Daniela Mücke anrief, wählte Weichert die Mobilnummer seiner Freundin Verena. Sie war vermutlich im Stall, wie fast jeden Tag um diese Zeit.

 Es dauerte eine Weile, bis sie sich meldete, und als sie es tat spürte Weichert sofort, dass etwas nicht stimmte. Sie klang, als würde sie weinen.

 »Verena?«, fragte er vorsichtig. »Was ist los?«

 »Es ist Tessa«, schniefte Verena. »Sie hat Koliken. Der Arzt ist hier, aber er … er kann nichts mehr für sie tun, sagt er.«

 Weichert ließ sich auf seinen Stuhl fallen. Das waren üble Nachrichten. Verena hing sehr an ihrer Stute, verbrachte seit Jahren so viel Zeit wie möglich mit ihr. Tessa war für sie nicht nur eine Möglichkeit, sich sportlich zu betätigen. Sie war Freundin, Geheimnishüterin und Therapeutin in einem.

 »Das tut mir wahnsinnig leid, mein Schatz«, sagte er.

 »Lutz, kannst du herkommen? Bitte, ich brauche dich jetzt.«

 »Natürlich. In einer halben Stunde bin ich bei dir. Halt durch, ja?«

 »Okay«, antwortete sie bedrückt. »Beeil dich.«

 Er versprach es und legte auf. »Schlechte Nachrichten«, sagte er zu seinen Kollegen. »Wir müssen die Feier verschieben.«

 »Warte, Dany«, sagte Andresen in den Hörer, deckte ihn mit einer Hand ab und wandte sich an Weichert. »Was ist passiert?«

 »Verena braucht mich. Ihr Pferd liegt im Sterben.«

 »Ach du dickes Ei.« Andresen schnalzte mit der Zunge. »Das müssen wir als Entschuldigung wohl oder übel akzeptieren. Ich weiß, wie viel Ihrer Freundin das Tier bedeutet. Richten Sie ihr mein Beileid aus.«

 »Meins auch«, bat Mirja.

 Weichert stand auf und schlüpfte in seinen grasgrünen Blazer. »Mach ich, danke.«

 

***

 

»Ja, da hört sich doch wohl alles auf!«, polterte jemand.

Juliane Hornhuber, die gerade auf dem Weg zum Strand war und in Gedanken versunken auf den gepflasterten Weg geschaut hatte, hob den Kopf. Ungefähr zehn Meter vor ihr stand ein älterer Herr mit Schlapphut und einem Mops an der Leine. Beide kamen Juliane vage bekannt vor.

»Man sollte Sie beide schnurstracks vom Platz jagen«, empörte sich der Schlapphutträger. Sein Unmut galt offenbar zwei jungen Männern, die auf Gartenstühlen vor ihrem Wohnwagen saßen und sich die Sonne ins Gesicht scheinen ließen.

»Wieso?«, fragte einer von ihnen zurück, ein kräftig gebauter Blondschopf. »Isset verboten, sich zu sonnen und dabei ’n Bierchen zu schlürfen?«

»Sie wissen ganz genau, was ich meine.«

»Nee, ich hab echt keinen Schimmer. Du?« Der Blonde drehte sich zu seinem dunkelhaarigen Freund um. Der schüttelte den Kopf, sagte aber nichts.

»Sie können sich doch nicht in aller Öffentlichkeit betatschen«, geiferte der Mopsbesitzer weiter. »Kinder könnten das sehen, Sie rücksichtslosen ….« Er brach ab.

Julianes Schritte wurden langsamer.

»Ja? Was wollten Sie sagen?«, fragte der Blonde angriffslustig. Er stand auf und kam näher. Das schien den Hund anzustacheln. Er zerrte kläffend an der Leine. Sein Herrchen zog ihn zurück. »Aus, Bobby!«

»Reden Sie ruhig weiter«, rief der junge Mann gegen das wütende Bellen an. Er war offenbar auf Krawall gebürstet, stand nun sehr dicht vor dem Rentner und funkelte ihn an, worauf der einen vorsichtigen Schritt nach hinten machte.

»Also? Wir rücksichtslosen … wat? Urlauber? Oder wollten Sie sagen, ›Sie rücksichtslosen homosexuell veranlagten Mitmenschen‹?«

Juliane blieb in einigem Abstand stehen.

»Ich werde mich über Sie beschweren!«, schimpfte der Ältere, wobei ihm kleine Spucketröpfchen aus dem Mund schossen. »Sie können schon Ihre Sachen packen, denn ich werde dafür sorgen, dass Sie noch heute hier verschwinden.«

Der Blonde tippte sich an die Stirn. »Sie haben ja nich alle Gurken im Glas!«

»Eine Frechheit ist das!« Der Rentner schaute sich um, als suche er Zeugen des Gesprächs, und entdeckte Juliane. »Juliane, hast du gehört, was der unverschämte Kerl zu mir gesagt hat?«

»Servus, Emil!«, sagte Juliane und kam zögernd näher. »Wie geht’s?«

»Wie soll es einem schon gehen, wenn sie jetzt schon solche Leute auf den Platz lassen. Und dann auch noch direkt vor unserer Parzelle!« Der schlohweiße Schnurrbart von Emil Krause sträubte sich vor Zorn. »Solche Leute gehören nicht auf einen Campingplatz. Die sollten lieber ein Zelt im Wald aufschlagen, da belästigen sie jedenfalls niemanden.«

Bobby kläffte zustimmend.

»Meine Hand lag auf Moritz’ Bein, det is alles. Der Alte soll sich nicht so anstellen.« Der Blondschopf musterte Juliane misstrauisch. Er fürchtete wohl, sie würde ihren Bekannten unterstützen. Die Absicht hatte sie allerdings nicht. Sie war in den achtziger Jahren im Münchner Glockenbachviertel aufgewachsen. Der Anblick gleichgeschlechtlicher Paare war für sie etwas völlig Normales. Sie ging in die Hocke, streichelte Bobby und zwinkerte dem Blonden unauffällig zu, worauf sich dessen Gesichtszüge wieder entspannten.

»Ich wollte gerade bei dir und Anne vorbeischauen«, behauptete Juliane. Das war gelogen. Eigentlich hatte sie sich auf die erste Begegnung mit dem Meer in diesem Jahr gefreut, auf einen Spaziergang mit nackten Füßen im warmen, feuchten Sand, auf kühles Wasser bis zu den Knöcheln und den Geruch von Seetang in der Nase. Der nach Harmonie strebende Teil von ihr hielt es allerdings für besser, dass sich vorerst die Gemüter abkühlten.

»Emilchen, was ist denn los?« Von der anderen Seite des Wegs näherte sich eilig eine ältere Frau in einem mit bunten Riesenblumen gemusterten Hängerkleid. An den Füßen trug sie kackbraune Gesundheitssandalen. »Was schimpfst du denn schon wieder … Nanu, Juliane. Das ist ja eine Überraschung.«

Juliane erhob sich und lächelte bemüht. »Servus, Anne! Ihr seid’s auch wieder da?«

»Ja, natüüürlich«, bestätigte Anne Krause in breitestem Norddeutsch. »Schon seit zwei Wochen. Komm rein, ich hab frischen Kaffee aufgebrüht. Emilchen, lass doch die jungen Leute in Ruhe.«

»Ja, hör auf deine Frau«, riet der Blonde.

Als Juliane sah, dass der Rentner erneut aufbrausen wollte, nahm sie seinen Arm. »Passt scho, Emil«, sagte sie und zog ihn sanft von seinen Nachbarn fort. »Oh, hast du neue Gartenzwerge?«

Sie schaute noch einmal über die Schulter. Der Blonde grinste breit und hob dankbar einen Daumen in die Höhe. Juliane nickte ihm zu, während sie mit Emil und Anne auf deren Parzelle zuging.

 

 

 

LESEPROBE ENDE