In dieser Szene begegnen sich Henry und meine Protagonistin Ella zum ersten Mal.
Zur Orientierung ein paar Sätze darüber, was zuvor geschehen ist:
Ella hat den Geheimgang gefunden, ist ihm gefolgt und findet sich schlussendlich unter einer Falltür wieder, die sich aber nicht öffnen lässt. Als der Akku ihres Handys seinen Geist aufgibt und damit die Lampe erlischt, findet sie sich im Dunkeln wieder - und das bei ihrer panischen Angst vor Finsternis! Plötzlich hört sie ein Geräusch über sich ...
Abrupt halte ich inne, verstumme und starre nach oben. Habe ich von dort eben Schritte vernommen? Ja, tatsächlich! Das ist eindeutig das Geräusch von festen Schuhen auf Stroh oder Ähnlichem.
Da oben ist jemand! Vor Freude, nicht allein hier zu sein, würde ich am liebsten laut jubeln, doch dann höre ich nicht, was über mir vorgeht, also schweig ich lieber stille.
Nun ist ein Schaben und Rascheln zu hören, als würde jemand etwas, das über der Falltür liegt, energisch und entschlossen mit den Füßen zur Seite fegen. Vermutlich Stroh. Wieso, frage ich mich, liegt da Stroh? Befindet sich dort oben ein alter Heuboden? Oder ist es ein Raum, der seit Hunderten von Jahren nicht mehr betreten wurde? Im Mittelalter hat man Zimmer mangels Teppichböden mit Stroh ausgelegt, was Mäuse ziemlich cool fanden.
Und wenn dort oben ganze Armeen von Mäusen leben, in diesem Augenblick ist es mir gleich. Ich habe nur den einen Gedanken: Rettung ist nah.
Vor Freude fange ich an tatsächlich zu heulen.
Ein kratziges Knirschen ertönt, als ob jemand einen Riegel bewegt. Während ich mir hektisch die Tränen von den Wangen wische, registriere ich, dass dieser zweite Riegel der Grund dafür gewesen sein muss, dass ich die Falltür nicht aufdrücken konnte. Sie kann von beiden Seiten verriegelt werden.
Es quietscht und grelles Licht blendet mich. Ich kneife meine Augen zusammen, blinzle und halte schließlich eine Hand schützend an die Stirn wie den Schirm einer Baseballkappe. Dann schaue ich vorsichtig nach oben und bemerke zunächst eine flackernde Kerze, deren Schein nach der Zeit im Dunkeln in meinen Augen brennt. Sie wird von einer Gestalt gehalten, die zu mir hinunterschaut. Das Gesicht sieht bei dieser Beleuchtung unheimlich aus, zumal der Blick, der mich trifft, alles andere als freundlich ist.
Ein Anblick, fast wie aus einem Horrorfilm.
Die Person hat ein breites Kreuz, gelocktes Haar bis auf die Schultern und kräftige Oberarme. Es handelt sich also entweder um einen Mann, der ungern zum Friseur geht, oder um eine russische Olympiasiegerin im Kugelstoßen.
Die Stimme, die von den Steinmauern zurückgeworfen wird, bestätigte meine erste Vermutung. Sie ist tief und klingt zudem einigermaßen verärgert.
„Bei allen Heiligen, das ist unglaublich. Kommt augenblicklich herauf!“
Der Fremde hält mir seine Hand hin. Zögernd ergreife ich sie und registriere, dass sie warm und kräftig ist.
„Ihr müsst schon mit beiden Händen zupacken!“
Schleunigst gehorche ich, werde im nächsten Moment in die Höhe gezogen und mit gemeinsamer Kraftanstrengung haben wir es schließlich geschafft. Leise keuchend knie ich auf einem mit Stroh bedeckten, staubigen Steinboden. Einige Sekunden lang bleibe ich sitzen, und als mein Atem sich beruhigt hat, hebe ich langsam den Kopf.
Ein Paar derbe, schmutzverkrustete Stiefel gelangt in mein Blickfeld. Bevor ich meine Betrachtung fortsetze, rappele ich mich erst einmal auf und wische die staubigen Hände an meiner Jeans ab. Dann betrachte ich den Fremden genauer.
Und er mich.
Ein paar Herzschläge lang mustern wir uns schweigend, von Kopf bis Fuß.
„Ich … Ich kann Eure Beine sehen“, sagt er, und wendet sich mit einem Ausdruck des Entsetzens ab.
Der stellt sich vielleicht an. Ich bin schließlich nicht nackt.
„Na und?“, gebe ich schnippisch zurück. „Ich sehe Ihre doch auch.“
Unwillkürlich werfe ich einen weiteren Blick auf die Region südlich seines Bauchnabels. Seine Hose ist ein echter Blickfang. Sie ist dunkelgrün und so eng, dass sie fast wie eine Strumpfhose aussieht. Besonders auffällig ist, dass seine … Kronjuwelen von einer Art Hosenlatz bedeckt sind und sie damit besonders hervorgehoben werden, zumal der Latz bemerkenswert ausgebeult ist. Ich schaue, wie er selbst gerade eben, rasch wieder weg und hoffe, dass ich nicht rot angelaufen bin bei diesem Anblick. Ich meine, wer rechnet denn mit sowas?
Unwillkürlich muss ich an die Ritterrüstung von Henry VIII. denken, die ich einmal im Tower besichtigt habe. Diese Rüstung hatte an besagter Stelle ebenfalls eine beeindruckende, für eine Frau fast angsteinflößende Wölbung. Ob das äußerliche Erscheinungsbild aber mit der Realität übereinstimmt, wissen wohl nur die Träger dieser Kleidungsstücke und ihre Ehefrauen. Ich denke, gerade im Fall von Henry VIII. war es pure Angeberei.
Ob der Kerl vor mir auch so ein Aufschneider ist?
„Aber … Ihr seid eine Frau! Das ist Gotteslästerung!“
Ich finde, er übertreibt maßlos. „Das ist eine völlig normale Jeans“, entgegne ich verärgert. „Dagegen ist das, was Sie da tragen, gelinde gesagt reichlich aufdringlich.“ Ich weise, ohne groß hinzusehen, auf den Hosenlatz. „Muss das sein?“
Wir starren aneinander vorbei, als wären wir uns nackt in einer Sauna begegnet. Was für eine bizarre Situation!
Ich kann es nicht lassen und schiele unauffällig zu ihm hinüber, während er zum Fenster sieht, als gäbe es dort etwas Interessantes zu beobachten.
Sein gesamter Aufzug ist ziemlich schräg. Als käme er von einem dieser Mittelalter-Märkte, wo man selbst Seife machen, Stockbrot essen und Bogenschießen üben kann. Über dem hellen Baumwollhemd, dessen Ausschnitt den Blick auf eine breite, leicht behaarte Brust freigibt, trägt er eine enge grüne Jacke, aus deren Ärmeln die Enden seines Hemdes hervorlugen. Wenn mich nicht alles täuscht, nennt man diese Jacke ein Wams. Es hat Holzknöpfe und ein paar goldgelbe Applikationen. Obwohl die Jacke nur knapp über seine Hüfte reicht, wird sie mit einem Gürtel zusammengehalten, an dem ein Lederbeutel und ein Messer befestigt sind. Das Ganze wirkt erstaunlich authentisch. War bestimmt nicht ganz billig.
Zumindest wirken sowohl er selbst als auch sein Aufzug einerseits antiquiert, andererseits aber verflixt attraktiv. Ich schätze, er ist ungefähr in meinem Alter. Sein lockiges Haar hat die Farbe von Bitterschokolade. Die dunklen Augen unter den kräftigen Brauen schauen finster nach draußen. Von den Nasenflügeln abwärts ziehen sich feine Linien, die sich vermutlich vertiefen, wenn sich sein geschwungener Mund zu einem Lächeln verzieht. Doch den Gefallen tut er mir nicht.
„Sie können mich ruhig ansehen“, sage ich. „Wenn meine Hose so ein irritierender Anblick für Sie ist, dann schauen Sie mir einfach ins Gesicht.“
Er wendet sich langsam um, verschränkt die Arme locker vor der Brust und neigt den Kopf zur Seite. Nach einigen Sekunden des Schweigens räuspert er sich. „Ihr schuldet mir eine Erklärung. Habt Ihr Euch in dem Gang verborgen, um mich auszuspähen?“
„Spähen? Ich?“ Energisch schüttle ich den Kopf. „Nein. Wieso auch?“
„Wer hat Euch auf mich gehetzt?“, setzt er argwöhnisch nach, ohne auf meine Frage einzugehen.
Der Kerl hat sie nicht alle, so viel steht fest.
„Niemand“, beteuere ich, in dem geduldigen Tonfall, den Ärzte in Nervenkliniken gern anwenden, wenn sie mit ihren Patienten reden. „Ich habe durch einen albernen Zufall eine verborgene Treppe entdeckt, bin ihr gefolgt, weil ich leider grässlich neugierig bin, und fand mich unter dieser Falltür wieder.“ Ich zeige auf das quadratische Loch im Boden. „Dann ging das Licht aus, ich meine, meine Handytaschenlampe, weil der Akku leer ist, was kein Wunder ist, schließlich war ich den ganzen Tag unterwegs. Wie auch immer, im Dunkeln bekomme ich Panik, deshalb …“ Ich unterbreche meinen Redeschwall, indem ich tief Atem hole, und beende ihn ruhiger. „Jedenfalls danke, dass Sie mich aus diesem gruseligen Gang rausgeholt haben. Ich war kurz davor, völlig durchzudrehen.“
Er starrt mich an, als hätte ich Klingonisch gesprochen.
(...)
LESEPROBE ENDE