Süße Versuchung

 

 

Dietmar Schäffer schaut noch einmal pflichtbewusst durch die Windschutzscheibe des Dienstwagens in beide Richtungen, ehe er den Blick auf die schwere Brotdose richtet, die Heike ihm mitgegeben hat. Ein zufriedenes Lächeln huscht über sein Gesicht, als er das dick belegte Schinkenbrot herausnimmt und genüsslich daran schnuppert. Deftiges Frühstück, dazu heißer Kaffee und ein ruhiger Dienst in Form einer Verkehrskontrolle. So kann der Tag ruhig weitergehen.
Er beißt gerade zum dritten Mal ab, als sich ein Wagen nähert. Dietmar setzt sich aufrecht ihn und schielt auf die Anzeige des Computers. Der Fahrer ist nur ganz knapp über der erlaubten Geschwindigkeitsgrenze, sogar noch im Toleranzbereich. Kein Grund also, das Frühstück zu unterbrechen. Er lässt sich wieder in den Sitz zurücksinken und sieht dem schwarz glänzenden Mercedes hinterher. Der beginnt plötzlich auf der geraden Straße zu schlingern.
Dietmar runzelt die Stirn. »So früh am Tag schon angetrunken«, murmelt er und schüttelt konsterniert den Kopf. »Mann, Mann, Mann.«
Jäh wird ihm klar, dass dies ja auch ein Vergehen gegen die Straßenverkehrsordnung darstellt. Alles andere als begeistert, aber mit der erforderlichen Eile trinkt er seinen Kaffee aus und verpackt das Schinkenbrot in der Dose, ehe er den Zündschlüssel dreht. Dann lenkt er den Dienstwagen auf die Straße und folgt dem Mercedes. Er hat ihn fast erreicht, als das Auto über die rechte Fahrbahnmarkierung hinaus fährt und mit einem dumpfen Scheppern im angrenzenden Graben landet.
Dietmar bremst ab und beobachtet abwartend den Unfallwagen. Nichts geschieht. Kein Qualm kommt aus der Motorhaube, der Fahrer öffnet nicht die Tür und krabbelt heraus. Es herrscht einfach nur gespenstische Stille. Dietmar steigt aus. Zögernd nähert er sich dem Fahrzeug und schaut durch das Seitenfenster. Ein gut gekleideter Mann ist hinter dem Steuer zusammengesunken, die Augen sind geschlossen. Der Fahrer ist in den Vierzigern, schlank, mit dunklen Locken. Er kommt Dietmar vage bekannt vor.
Er klopft kräftig gegen die Scheibe. »Hallo! Hören Sie mich?«
Keine Reaktion. Eilig fummelt Dietmar sein Handy aus der Tasche.

»Das ist Dietmar«, berichtet Bärbel Schmied, eine Hand auf der Sprechmuschel.
Sophie Haas zieht noch ein letztes Mal an ihrer Zigarette, ehe sie sie außen am Fenstersims ausdrückt. »Und? Müssen wir ihn aus einer ihn umzingelnden Schafherde befreien?«
Bärbel schüttelt den Kopf. »Nee. Ein Unfall. Der Fahrer ist offenbar betrunken in den Straßengraben gerutscht und gibt kein Lebenszeichen von sich.«
»Hat Schäffer schon den Notarzt alarmiert?«
Bärbel zuckt mit den Schultern und hält sich den Hörer wieder ans Ohr. »Hast du schon den Notarzt gerufen?« Sie lauscht und nickt dann in Sophies Richtung. »Er ist auf der Landstraße nach Liebernich, ungefähr da, wo Tante Ente wohnt«, fügt sie hinzu.
Sophie schließt das Fenster. »Na, dann lassen Sie uns mal hinfahren.«
»Dietmar? Wir sind gleich da.« Bärbel legt auf und folgt ihrer Chefin aus dem Gebäude.
»Tach, Frau Ziegler«, grüßen beide gleichzeitig die schwerhörige Rentnerin, die mit ihrem Rollator an der Einfahrt vorbeischlurft. Wie üblich erhalten sie keine Antwort.
Eine knappe Viertelstunde später hält Sophies roter Flitzer hinter dem Dienstwagen. Auf der anderen Straßenseite steht der Notarztwagen, der aus Liebernich gekommen ist.
Dietmar hat ihre Ankunft bemerkt und kommt auf seine Kolleginnen zu. »Es ist Dr. Petzel«, verkündet er aufgeregt.
»Du meinst den Anwalt?«, fragt Bärbel überrascht.
Dietmar nickt. »Er ist tot.«
»Nee, ne?«
Sophie betrachtet die Unfallstelle aufmerksam. »Er ist an den Folgen des Unfalls gestorben? Der Graben ist doch nicht sehr tief und der Wagen sieht fast unbeschädigt aus. Fuhr er denn so schnell?«
Dietmar schüttelt den Kopf. »Nee, gar nicht. Und geblutet hat er auch nicht. Es sah eher aus, als wäre er am Steuer eingeschlafen. Bevor er in den Graben rauschte, fuhr er Schlangenlinien.«
Sophie schlendert mit ihren hochhackigen grünen Schuhen auf den Notarzt zu, der gerade ein Formular ausfüllt. »Guten Tag«, sagt sie lächelnd, »Sophie Haas, Polizei Hengasch. Konnten Sie schon feststellen, woran er gestorben ist?« Sie weist auf den Fahrer, der mittlerweile zugedeckt auf einer Bahre liegt.
»Nicht mit Sicherheit«, antwortet der Arzt. »Er hat keine äußeren Verletzungen. Momentan tippe ich daher auf Herzinfarkt.«
Sophie grunzt amüsiert. »Herzinfarkt? Sind Sie ein Verwandter von Dr. Bechermann, dem Gynäkologen?«
Der Notarzt sieht auf. »Er ist mein Cousin. Wieso?«
Verblüfft starrt Sophie ihn an. Schließlich winkt sie ab. »Nicht so wichtig. Sie bringen den Mann in die Gerichtsmedizin?«
»Natürlich. Hier sind die persönlichen Gegenstände des Toten.« Er reicht Sophie eine durchsichtige Tüte.
»Danke. Die Ergebnisse der Obduktion sollen dann bitte an uns geschickt werden.« Sie nickt dem Arzt zu und kehrt zu Bärbel und Schäffer zurück.
»Sehr merkwürdig, das Ganze«, meint sie und betrachtet nachdenklich die Plastiktüte mit dem Ausweis und dem Handy des Verstorbenen. »Ich bin gespannt, was die Obduktion ergibt. Aber jetzt sollten wir wohl erst einmal die Angehörigen informieren. Kommen Sie, Bärbel.«
»Soll ich mit der Verkehrskontrolle weitermachen, Chef?«, will Dietmar wissen.
»Schäffer!« Sophie runzelt die Stirn. »Da liegt ein Wagen im Graben. Wie wäre es, wenn Sie dafür sorgen würden, dass er da verschwindet? Am besten schauen Sie ihn sich vorher noch genau an.«
»Wieso? Ich weiß doch, wie er aussieht.«
Sophie rollt mit den Augen. »Stichwort: Untersuchung des Innenraums, Schäffer. Holen Sie einfach alles heraus, was sie an persönlichen Gegenständen in dem Mercedes finden und bringen Sie sie auf die Wache, sobald der Wagen abtransportiert wurde.«
»Ach so. Ja, klar. Wird gemacht, Chef.«

Auf dem Weg zu den Angehörigen informiert Bärbel sie mit dem Wenigen, das ihr von Dr. Petzel bekannt ist.
»Er ist der einzige Rechtsanwalt und Notar in Hengasch. Sein Büro befindet sich in dem Haus neben dem Laden von Frau Runkelbach. Verheiratet ist er mit Renate, deren Eltern sind Milchbauern, wie mein Bruder, aber sie wollen ihren Hof verkaufen. Sind ja auch beide schon über sechzig und nicht mehr ganz gesund. Da vorne an der Ampel müssen Sie links abbiegen.«
Sophie setzt den Blinker. »Kinder haben die Petzels nicht?«
»Doch, einen Sohn, der studiert in Koblenz. Da vorne ist es.« Bärbel weist auf ein älteres Einfamilienhaus. Sophie sieht sich um. Eine ruhige Gegend. Ein Nachbar arbeitet im Garten, gegenüber putzt eine junge Frau Fenster. Vor dem Haus des Ehepaars Petzel steht ein Kleinwagen. Sophie parkt dahinter.
Als sie klingelt, beginnen im Haus mindestens zwei Hunde zu kläffen. Erst nach dem zweiten Klingeln öffnet eine sportlich wirkende Frau in Jeans und T-Shirt. Sie hält eine knurrende Dogge am Halsband fest. »Ja, bitte? Ach, hallo Bärbel.«
»Hallo, Renate. Das ist meine Chefin, Frau Haas.«
Sophie zückt ihren Dienstausweis. »Guten Tag, Frau Petzel. Dürfen wir einen Augenblick hereinkommen? Vorausgesetzt, es ist ungefährlich.« Sie schaut argwöhnisch Richtung Dogge.
»Keine Sorge, Brutus ist lammfromm.«
»Hoffentlich weiß er das auch«, flüstert Sophie Bärbel zu, ehe sie über die Schwelle tritt und Frau Petzel ins Wohnzimmer folgt. Die Dogge hat das Interesse an dem Besuch verloren. Sie legt sich auf eine große Hundedecke, auf der es sich bereits ein Rottweiler gemütlich gemacht hat.
»Frau Petzel, es geht um Ihren Mann«, sagt Sophie, nachdem sie sich auf einem Sessel niedergelassen und auch die Hausherrin Platz genommen hat. »Er hatte einen Unfall.«
»Bodo? Ein Unfall?« Ein erschütterter Blick trifft Sophie. »Wie geht es ihm?«
Sophie zögert. »Er ist noch an der Unfallstelle verstorben«, berichtet sie mit gesenkter Stimme. »Es tut mir sehr leid.«
»Bodo ist tot?« Frau Petzel ist bleich geworden. »Sind Sie ganz sicher?«
Sophie nickt.
Die blauen Augen der jungen Witwe glänzen, ihr Kinn zittert. Sie presst die Lippen zusammen und blinzelt die aufkommenden Tränen weg. Versucht sichtlich, Haltung zu bewahren. »Was ist passiert?«, flüstert sie.
»Genaues können wir Ihnen noch nicht sagen. Offenbar hat er die Kontrolle über seinen Wagen verloren und ist in einen Straßengraben gerutscht. Auf der Landstraße, offenbar kam er aus Liebernich. Wissen Sie, was er dort so früh gemacht hat?«
Sie schüttelt den Kopf, wirkt wie betäubt. Schließlich räuspert sie sich. »Mir hat er gesagt, er müsse heute früher ins Büro. Deshalb hat er schon gegen sieben das Haus verlassen. Das tat er häufiger in der letzten Zeit.«
Ihre Lippen sind nur noch ein schmaler Strich, bemerkt Sophie verwundert. »Aber was wollte er dann in Liebernich?«
Frau Petzel ignoriert die Frage. »Woran genau ist er gestorben?«, fragt sie. Sie wirkt gefasst, hat ihre Hände im Schoß verschränkt.
»Schwer zu sagen«, erwidert Sophie. »Äußerlich konnten keine Verletzungen festgestellt werden. Um die genaue Todesursache zu erfahren, müssen wir das Protokoll der Gerichtsmedizin abwarten. Aber offenbar erlitt er während der Fahrt einen Schwächeanfall. Und Sie haben keine Ahnung, wo sich Ihr Mann heute morgen zwischen sieben und acht aufgehalten hat?«
Renate Petzel schlägt sich plötzlich eine Hand vor den Mund und steht auf. »Entschuldigen Sie mich«, presst sie hervor und rennt hinaus. Die Dogge springt auf und eilt ihr hinterher.

»Immerhin hat sie sich danach wieder einigermaßen gefangen und konnte uns ein paar Informationen geben«, berichtet Bärbel Dietmar, als sie wieder auf der Wache sind. »Gesundheitlich war mit ihrem Mann alles in Ordnung, er ist regelmäßig zur Vorsorge gegangen und hat gesund gelebt. Sie kann sich nicht vorstellen, dass er einen Herzinfarkt bekommen hat.«
»Haben Sie in dem Wagen irgendetwas gefunden, Schäffer?«, will Sophie wissen.
»Nicht viel. Nur einige klassische CDs, eine halbleere Wasserflasche und eine angebrochene Tüte mit Pralinen.« Er holt die genannten Dinge aus einer Baumwolltasche und stellt sie auf den Schreibtisch.
Sophie betrachtet die Pralinentüte.
»Die lag im Fußraum vor dem Beifahrersitz«, sagt Schäffer. »Ist wohl beim Unfall runtergefallen. Ein paar von den Pralinen sind aus der Tüte gefallen.«
Sophie horcht auf. »Dann war die Tüte offen? Sie haben sie verschlossen?«
Dietmar nickt. »Der Verschluss lag auch da, deshalb dachte ich, es wäre besser ...«
»Also können wir davon ausgehen«, unterbricht ihn Sophie, »dass Herr Petzel während der Fahrt Pralinen genascht hat.«
Dietmar lehnt sich zurück und verschränkt die Hände auf seinem Bauch. »Ja, ich glaub schon.«
Sophie mustert ihn prüfend. »Sie haben doch hoffentlich keine davon gegessen, Schäffer?«
»Nee, natürlich nicht«, empört sich Dietmar.
Sophie zieht wissend eine Augenbraue hoch.
»Die waren voller Hundehaare«, erklärt er und verzieht angewidert das Gesicht.
Sophie legt die Tüte wieder auf den Schreibtisch. »Gut für Sie. Es wäre schließlich möglich, dass diese so harmlos aussehenden Schokoteilchen der Grund dafür sind, dass Bodo Petzel so plötzlich vor seinen Schöpfer getreten ist.«
Dietmar schluckt. »Sie meinen, die Dinger sind -«
»Unter Umständen vergiftet, genau. Schicken Sie die Pralinen umgehend an die KTU. Wäre ja schließlich möglich, dass jemand Herrn Petzel um die Ecke bringen wollte. Anwälte haben ja von Haus aus nicht nur Freunde. Falls es so ist, sollten Sie dem lieben Herrgott für die Hundehaare danken.«
Dietmar sieht von der Tüte zu Sophie und nickt betroffen.

Am nächsten Tag erhalten sie den Bericht der Gerichtsmedizin. Tatsächlich hat die Obduktion ergeben, dass Dr. Bodo Petzel vergiftet worden ist.
»Die Pralinen waren präpariert«, fasst Sophie die Fakten zusammen. »Es wurde Insulin darin gefunden, ziemlich hoch dosiert. Jetzt brauchen wir nur noch herauszufinden, woher Dr. Petzel die Pralinen hatte. Dafür müssen wir herausfinden, wo er vor dem Unfall gewesen ist. Möglich, dass er die Pralinen dort erhalten hat.«
»Und wenn er sie schon früher bekommen hat?«, wendet Bärbel ein. »Vielleicht hatte er sie schon eine Woche oder so, ehe er sie geöffnet hat.«
Sophie geht ans Fenster und zündet sich nachdenklich eine Zigarette an. »Möglich«, stimmt sie zu und pustet den Rauch nach draußen. »Aber dennoch versuchen wir es zunächst einmal mit gestern Morgen. Bärbel, Sie versuchen herauszufinden, wo man diese Pralinen bekommt. Ich werde in seine Kanzlei fahren und mich mit der Sekretärin unterhalten.«
»Und was soll ich machen, Chef?«, fragt Dietmar.
Da muss Sophie nicht lange überlegen. »Sie fragen Ihre Frau, was sie über den Toten weiß«, ordnet sie an. »Und über dessen Frau. Und seine Sekretärin. Über alles. Jede Kleinigkeit könnte wichtig sein, Schäffer.«

Die Sekretärin Viola Hasenfuß, einzige Mitarbeitern von Dr. Bodo Petzel, gibt Sophie Einblick in die laufenden Fälle. Viele sind es nicht.
»Hengasch ist ein kleiner Ort«, gibt sie zu bedenken. »Nachbarschaftstreitigkeiten, Verkehrsdelikte, ab und an mal eine Scheidung. Hin und wieder Kaufverträge oder Testamente.«
»Wo war Ihr Chef eigentlich gestern früh zwischen sieben und acht Uhr, wissen Sie das?«
»Zu Hause, nehme ich an. Er kam immer so gegen halb neun ins Büro.«
»Merkwürdig. Seine Frau sagte aus, er wäre in letzter Zeit immer schon sehr früh ins Büro gefahren.«
Frau Hasenfuß schüttelt den Kopf. »Ich fange um halb acht an und bin immer die Erste.«
»Haben Sie Zugriff auf seinen Terminkalender?«
»Natürlich.« Frau Hasenfuß nimmt ein rotes Buch zur Hand und schlägt es auf. »Hier sind Gerichtstermine notiert, hier die Besprechungen mit Mandanten. Wie Sie sehen können, ist vor acht Uhr nie etwas eingetragen.«
»Hatte Herr Petzel in der letzten Zeit mit irgendwem Ärger? Mit einem Mandanten oder Gegner?«
»Eigentlich nicht. Abgesehen von diesem Fall«, fügt sie hinzu und zieht eine Akte hervor, die mit ›Schroeder gegen Schroeder - Unterhalt‹ beschriftet ist. »Die Sache ist inzwischen allerdings abgeschlossen. Ich wollte heute die letzte Rechnung schreiben.«
Sophie nimmt die Akte und beginnt zu blättern. »Erzählen Sie, was gab es da für Probleme?«
»Albert Schroeder, der geschiedene Mann unserer Mandantin Martina Schroeder, war stinksauer, nachdem er den Unterhaltsprozess verloren hatte. Er ist Bauunternehmer und verdient gut, wollte seiner Frau allerdings nur ein Minimum an Unterhalt zugestehen. Herr Petzel hat aber dafür gesorgt, dass sie monatlich rund 2.500 Euro erhält. Nach der Verhandlung hat Albert Schroeder meinem Chef gedroht. Das würde ihm noch leidtun, hat er gesagt, und wäre beinahe auf ihn losgegangen. Sein Anwalt hat ihn gerade noch zurückhalten können, hat Herr Petzel mir erzählt.«
»Sie haben doch bestimmt die Adresse von diesem Herrn Schroeder«, sagt Sophie.
»Ja, natürlich. Sie finden ihn jetzt vermutlich in seiner Baufirma.«

Albert Schroeder ist ein stämmiger und hochgewachsener Mann. Hände wie Schaufeln, breite Schultern, Bierbauch und Stiernacken. Als Sophie, die ihm an seinem Schreibtisch gegenübersitzt, den Namen und den Tod von Bodo Petzel erwähnt, umwölkt sich die Stirn des Bauunternehmers.
»Der ist tot? Schadet nix, wenn Sie mich fragen. Klar war ich sauer auf ihn. Meine Ex sitzt den ganzen Tag mit ihrem fetten Arsch in meinem Haus und kassiert, während ich schufte wie ein Ackergaul und in einer kleinen Bude hier auf dem Gelände hause. Das hat mit Gerechtigkeit ja wohl nix zu tun.«
»Sehe ich genauso, Herr Schroeder«, lenkt Sophie ein. »Sagen Sie, sind Sie zuckerkrank?«
Er runzelt die Stirn. »Diabetes Typ II. Warum fragen Sie?«
»Ach, nur so. Dann müssen Sie sich Insulin spritzen?«
»Logo. Sagen Sie, sind Sie von der Polizei oder von der Krankenkasse?«
Sophie beugt sich vor. »Dr. Petzel wurde mit Insulin vergiftet. Und Sie hatten ein Motiv: Rache. Sie haben ihm sogar nach der Verhandlung gegen Ihre Frau gedroht, habe ich gehört.«
Albert Schroeder starrt Sophie ungläubig an. Dann erhebt er sich ruckartig und funkelt sie an. »Sie glauben, ich hätte den Kerl umgebracht? Sind Sie noch bei Trost?«
Sophie erhebt sich langsam. »Herr Schroeder, ich muss allen Hinweisen nachgehen. Also, wann haben Sie Dr. Petzel das letzte Mal gesehen?«
»Bei der Verhandlung vor drei Wochen. Hören Sie, wenn ich ihn hätte killen wollen, wäre ich ihm gleich an Ort und Stelle an die Gurgel gegangen. Hab ich aber nicht gemacht.«
»Weil Ihr Anwalt sie davon abgehalten hat!«
Schroeder schnaubt. »Diese halbe Portion? Als ob der mich hätte aufhalten können. Nein, ich hab’s nicht gemacht, weil ich sowas nicht tue, auch wenn es mich manchmal juckt. So wie jetzt zum Beispiel.« Er betrachtet Sophie mit finsterer Miene.
»Soso«, sagt sie nur. »Und wo waren Sie gestern Morgen zwischen sieben und acht?«
Schroeder kommt um den Schreibtisch herum und nähert sich Sophie, die instinktiv zwei Schritte nach hinten macht. Richtung Ausgang.
»Da war ich in der Bude, in der ich jetzt lebe«, knurrt Schroeder. »Eine ehemalige Hausmeisterwohnung, gleicih um die Ecke von meinem Büro. Hab gefrühstückt und geduscht. Sonst noch was?«
»Haben Sie Zeugen dafür?«
»Nee. Wohne ja jetzt alleine.« Er stapft an ihr vorbei und öffnet die Tür seines Büros. »Auf Wiedersehen, Frau Kommissarin.«
Sophie schnappt sich ihre Handtasche und stolziert mit erhobenem Kinn an ihm vorbei. »Wir werden uns bestimmt wiedersehen, Herr Schroeder«, sagt sie schnippisch und verlässt den Raum.

Zurück im Büro berichtet Bärbel, dass es Pralinen lediglich bei Frau Runkelbach gibt, allerdings nur Schachteln, keine Tüten. »Sie verkauft selten welche, sagte sie. Das letzte Mal sei bestimmt schon zwei Wochen her.«
»Und an wen hat sie die verkauft?«
Bärbel hebt unbehaglich die Schultern. »Weiß ich nicht.«
Sophie atmet tief durch und bemüht sich, ruhig zu bleiben. »Na, dann finden Sie das doch spaßeshalber mal heraus.«
Bärbel setzt sich ihre Mütze auf und steuert den Ausgang an. »Wird gemacht.«
Sophie schaut auf die Uhr. Es ist bereits drei Uhr nachmittags. »Wo bleibt eigentlich Schäffer?«, fragt sie ungeduldig. In diesem Augenblick kommt Dietmar durch die Tür und stößt fast mit Bärbel zusammen.
»Dietmar!«, stößt sie erschrocken hervor.
»Bärbel!«
»Schäffer!«, sagt Sophie.
Wie auf Kommando wenden Bärbel und Dietmar die Köpfe in ihre Richtung.
Sophie seufzt langanhaltend. »Was hat Ihre Frau gesagt?«
Er schiebt sich an Bärbel vorbei, setzt sich auf seinen Platz und legt die Polizeimütze auf dem Schreibtisch ab. »Heike hat sich ein bisschen umgehört und von Barbara - die ist bei den Landfrauen - also, die Barbara hat gesagt, dass der Petzel seine Frau betrügen soll.«
»Aha. Und wie kommt diese Barbara darauf?«
»Sie hat ihn mal zufällig in Dümpelbach gesehen, am Marktplatz. Da hat er mit einer Frau Händchen gehalten, die eindeutig nicht Frau Petzel war.«
»Wer das war, wusste diese Barbara aber nicht, nehme ich an.«
»Nee, die kannte sie nicht.«
Sophie schaut in ihren Kaffeebecher. Leer. »Hat sie sie beschreiben können?«
»Sie meinte nur, die Frau sei blond gewesen.«

 

»Und die Frau Petzel ist ja brünett«, meint Bärbel.
»Das ist mir bekannt, Bärbel. Wollten Sie nicht zu Frau Runkelbach gehen?« Sophie schlendert zur Spülküche und schenkt sich  frischen Kaffee ein.

 

»Ich wollte vorher nur hören, was Dietmar erfahren hat«, verteidigt sich Bärbel.

 

»Kommt ja auch nicht auf zwei Minuten an. Schäffer, wie lange ist es her, dass Herr Petzel in Dümpelbach gesehen wurde?«
»Zwei Wochen ungefähr.«
Bärbel und Sophie tauschen einen Blick. »Zwei Wochen«, wiederholt Sophie nachdenklich. »Bärbel, fragen Sie bei Frau Runkelbach nach, ob es eine Frau war, die vor vierzehn Tagen Pralinen bei ihr gekauft hat. Vielleicht erinnert sie sich sogar an die Haarfarbe.«
Bärbel nickt eifrig und verschwindet.
Sophie wendet sich an Dietmar. »Und Sie, Schäffer, fahren zur Apotheke und erkundigen sich dort, wer in den letzten zwei Wochen Insulin erhalten hat.«
Schäffer nickt beflissen und folgt Bärbel nach draußen. Sophie greift zu ihrer Köln-Schneekugel, schüttelt sie und betrachtet nachdenklich die Plastikschneeflocken.

Bärbel ist als Erste zurück. »Nee, Frau Haas, das war keine Frau, die Pralinen gekauft hat, tut mir leid.«
Sophies Mundwinkel sacken enttäuscht nach unten. »Wissen Sie denn, wer es war?«
»Frau Runkelbach meint, das war der Herr Grummel.«
»Wer, um alles in der Welt, ist Herr Grummel?«
»Das ist der Betreiber des Tierheims von Hengasch. Ein ganz Netter, ehrlich. Der könnte keiner Fliege etwas zuleide tun.«
»Würde mich auch wundern, wo er doch so tierlieb ist«, seufzt Sophie.
Bärbel geht nicht darauf ein. »Ich bin also rüber zum Tierheim und hab den Herrn Grummel gefragt, für wen er die Pralinen gekauft hat.« Sie lächelt zufrieden.
»Spucken Sie’s schon aus, Bärbel!«
»Die Pralinen waren ein Dankeschön für eine großzügige Spende. Und diese Spende kam von Frau Petzel.«
»Dann hat sie ihren Mann umgebracht?«, wundert sich Sophie. »Das hätte ich ihr irgendwie nicht zugetraut. Sie scheint doch ziemlich viel für ihn empfunden zu haben.«
»Vielleicht hat sie von seiner Affäre erfahren«, überlegt Bärbel.
»Aber woher soll sie das Insulin bekommen haben? Leidet sie auch an Diabetes? Na, das erfahren wir hoffentlich, wenn Schäffer zurück ist. Wo, zum Teufel, bleibt er eigentlich?«
Prompt öffnet sich die Tür und Dietmar kommt herein.
»Sie reagieren in letzter Zeit wirklich erstaunlich gut auf Ihr Stichwort«, meint Sophie amüsiert und beugt sich vor. »Also los, erzählen Sie. Wer in Hengasch hat Zugriff auf Insulin?«
Er zieht einen Zettel aus der Uniformjacke. »Also, da ist der Bauunternehmer Schroeder, dann noch Frau Ziegler, die Frau von Herrn Grummel -«
»Nein!«, unterbricht ihn Sophie überrascht.
»Doch«, bekräftigt Dietmar.
»Das kapier ich nicht«, sagt Bärbel. »Was hätte der Grummel für einen Grund, Herrn Petzel umzubringen? Die Petzels sind großzügige Förderer des Tierheims.«
»Darauf kommen wir vielleicht später zurück. Schäffer, wer steht noch auf Ihrem Zettel?«
 Dietmar liest den nächsten Namen ab. »Bauer Steinmann.«
»Und wer ist das?«
Bärbel räuspert sich. »Das ist der Vater von Frau Petzel. Der Milchbauer.«

Erneut löst Sophies Drücken auf die Klingel lautes Hundegebell aus. Wie beim letzten Besuch beruhigen sich die Dogge und der Rottweiler rasch und machen es sich auf ihrem Platz gemütlich, während Sophie und Bärbel sich mit Renate Petzel um den Wohnzimmertisch setzen.
»Frau Petzel, wir haben Ihnen noch gar nicht mitgeteilt, was bei der Obduktion Ihres Mannes herauskam«, beginnt Sophie.
»Und? Hatte er einen Herzinfarkt?«
»Nein. Er ist vergiftet worden.« Sophie macht eine kleine Pause. »Mit Pralinen, die jemand mit Insulin präpariert hat.« Aufmerksam beobachtet sie die Witwe des Ermordeten. Die hat die Augen geweitet und starrt Sophie entsetzt an. »Wie bitte?«
»Sie haben mich richtig verstanden«, sagt Sophie. »Frau Petzel, wir wissen, dass Sie vom Tierheimbetreiber Grummel Pralinen bekommen haben. Und uns ist auch bekannt, dass Sie vor zwei Wochen für Ihren Vater Insulin aus der Apotheke geholt haben.«
Renate Petzel sackt in sich zusammen und bedeckt ihr Gesicht mit den Händen.
»Wieso wollten Sie Ihren Mann vergiften?«, fragt Sophie sanft.
Frau Petzel hebt den Kopf, ihre Augen sind tränenüberströmt. »Das wollte ich doch gar nicht«, schluchzt sie. »Ich habe Bodo geliebt und hätte ihm niemals etwas antun können.«
»Auch nicht, als sie von seiner Affäre erfahren haben?«
Renate Petzel erhebt sich, holt eine Packung Taschentücher aus einer Schublade und schnäuzt sich die Nase. »Auch dann nicht«, sagt sie überzeugt. »Er hat mich schon mehrmals betrogen. Es fiel ihm schwer, Versuchungen zu widerstehen. Aber er kam immer zu mir zurück und ich habe ihm jedes Mal verziehen.«
Sophie runzelt die Stirn. »Und wieso haben Sie dann dieses Mal die Pralinen präpariert?«
Urplötzlich überzieht eine kalte Härte das Gesicht der Witwe. »Weil ich dieses Flittchen aus dem Weg haben wollte.«
»Sie wissen, mit wem Ihr Mann ...?«
Renate Petzel nickte. Ihre Stirn ist umwölkt, sie wirkt gleichzeitig zornig und betrübt. »Ich spürte, dass Bodo sich veränderte. Dass seine Gefühle für mich weniger wurden und er sich nicht wie früher Mühe gab, seine Affäre vor mir zu verbergen. Es schien beinahe, als wollte er, dass ich ihm auf die Schliche komme und ihn freigebe. Aber dazu war ich nicht bereit.«
»Und als dieser Tierheim-Besitzer -«
»Herr Grummel«, wirft Bärbel ein.
»Genau. Danke, Bärbel. Als also dieser Herr Grummel Ihnen die Pralinen schenkte und Ihr Vater Sie fast zeitgleich bat, für ihn das Insulin zu besorgen, beschlossen Sie, beides zu kombinieren und Ihrer Nebenbuhlerin zukommen zu lassen.«
Renate Petzel nickt. »Ich habe sie ihr anonym zugeschickt. Sie sollte glauben, die Pralinen seien von einem heimlichen Verehrer. Nicht eine Sekunde habe ich damit gerechnet, sie könnte sie meinem Mann ...« Erneut beginnt die Witwe zu schluchzen.
Sophie zieht die Handschellen aus ihrer Umhängetasche. »Ich muss Sie vorläufig festnehmen, Frau Petzel. Aber verraten Sie uns vorher noch, an wen genau Sie die Pralinen geschickt haben?«

Wie versteinert sitzt Martina Schroeder, die Exfrau des wuchtigen Bauunternehmers, vor Sophies Schreibtisch. »Ich kann es nicht fassen«, haucht sie und starrt ins Leere. »Dann bin ich also schuld an Bodos Tod! Aber ich hatte doch keine Ahnung, dass ...Woher wusste seine Frau eigentlich von Bodo und mir? Wir waren doch immer so vorsichtig.«
»Als sie eines Tages mit ihren Hunden in den Wald bei Liebernich fahren wollte, bemerkte sie zufällig, dass ihr Mann aus Ihrem Haus kam«, gibt Sophie das weiter, was Frau Petzel ihr berichtet hat. »Sie rief ihn an und fragte, wo er sei. Er behauptete, er wäre im Büro. Damit war ihr Misstrauen geweckt. Sie spionierte ihm ein wenig hinterher und fand recht schnell heraus, dass zwischen Ihnen beiden mehr als nur ein berufliches Verhältnis bestand. Außerdem hatte sie das Gefühl, dass es ernst sei und ihr Mann sich Ihretwegen von ihr trennen wollte.«
»Und da beschloss sie, mich aus dem Weg zu räumen«, fügt Frau Schroeder bitter hinzu. »Wenn ich Schokolade mögen würde, wäre ich jetzt tot. Nur deshalb habe ich die Pralinen an Bodo weitergegeben, als er mich neulich besuchte. Er liebte Süßigkeiten.« Sie beginnt zu weinen.
Bärbel reicht ihr ein Taschentuch.

»Mann, Mann, Mann«, sagt Dietmar, als die deprimierte Frau Schroeder das Revier verlassen hat.
»Ja«, nickt Sophie und mustert ihn schmunzelnd. »Hier ist wieder was los, ich weiß. Was lernen Sie aus diesem Fall, Schäffer? Bloß nicht schwach werden, wenn eine Versuchung lockt. Ich bin sicher, auch Ihre Muschi wäre nicht zimperlich, wenn sich jemand an ihren Bär heranmachen würde.«
»Blödsinn«, grollt Dietmar. »Heike würde niemals -«
»Was würde ich niemals?«
Erschreckt schaut Dietmar hoch und blickt in das misstrauische Gesicht seiner blondgelockten, rundlichen Gattin. »Gar nichts, Muschi. Ich, äh ... Wir haben nur gerade gesagt, dass ...« Hilfesuchend schaut er seine Kolleginnen an.
»Dass Sie niemals Pralinen, die man Ihnen geschenkt hat, weiterverschenken würden«, vollendet Sophie sein Gestammel.
Heikes Gesicht drückt Unverständnis aus. »Wieso sollte jemand so etwas tun? Aber apropos Pralinen. Die hier waren bei der Runkelbach im Angebot, da habe ich mir gedacht, ich bringe euch welche vorbei, als Nevennahrung.« Sie legt eine Schachtel auf den Tresen, öffnet sie und steckt sich eine in den Mund. »Na komm, Bär, nimm auch eine, die sind mit Nougat. Magst du doch so gern.«
»Ach nee«, winkt Dietmar ab. »Lass mal. Ich bin satt.«

 

 

 

ENDE