Prolog

 

 02. Mai

 Es ist merkwürdig, jemanden zu beobachten, der in wenigen Stunden tot sein wird und nichts davon weiß. Was würde er wohl tun, wenn er ahnen könnte, dass sein Leben bald vorbei ist? Sicher nicht Rasenmähen und in der Erde wühlen.

 Er würde sein Haus aufräumen, seine Angelegenheiten regeln und sich von Nahestehenden verabschieden. Oder etwas tun, was er schon immer machen wollte. Fallschirmspringen oder seinem Chef auf den Schreibtisch pinkeln.

 Während ich durch die Hecke luge wird mir klar, dass der Gedanke an seinen Tod in diesem Augenblick weit weg sein muss, denn um ihn herum tobt das Leben. Schmetterlinge tanzen in der Luft, die Vögel zwitschern und um ihn herum blüht und gedeiht alles. Selbst das Unkraut, das er gerade aus den Blumenbeeten zupft.

 Die Sonne wandert bereits Richtung Westen, als er mühsam aufsteht - er hält sich das Kreuz, das vom vielen Bücken und Hocken zu schmerzen scheint - und seine Gartenutensilien zusammenräumt, ehe er sie in einem kleinen Schuppen verstaut.

 Etwas Zeit hat er noch. Genug für eine warme Mahlzeit und ein wenig Zerstreuung vor dem Fernseher.

 Doch wenn es dunkel ist, komme ich zurück. 

Dann ist es soweit. Dann wird er sterben.

 

KAPITEL 1 - KRISE & KARRIERE  

 

Es blitzte und donnerte. An ihrem Rücken spürte sie den weichen Teppich.

»Endlich, Krissi!«, keuchte Jan und drang tiefer in sie ein. »Endlich!« Eng umschlungen bewegten sie sich, fanden ihren Rhythmus. Sein Stöhnen in ihren Ohren, seine glatte Haut auf ihrem erhitzten Körper ... Es war so schön, doch sie konnte es nicht genießen, weil sie spürte, dass ein Unheil nahte, eine furchtbare Katastrophe.

 Wieder donnerte es. Dann wurde es mit einem Mal so hell, dass sie glaubte, ein Blitz sei eingeschlagen. Das grelle Licht blendete sie und ihr Herz begann so heftig gegen ihren Brustkorb zu hämmern, als suche es panisch einen Weg hinaus, raus aus ihrem Körper. Sie sah zur Tür. Dort stand Stephan, die Hand am Lichtschalter, und sah sie an. Seine Augen blitzten vor Wut und sein Gesicht verzerrte sich zu einer grässlichen Fratze ...

 Kristina Wilbert keuchte und setzte sich mit aufgerissenen Augen ruckartig im Bett auf. Ihr Puls raste.

 Schon wieder dieser Traum! Würde er sie bis an ihr Lebensende verfolgen?

 Schwer atmend vergrub sie das Gesicht in den Händen, bis sich ihr Herzschlag wieder normalisiert hatte. Dann fuhr sie sich durch das kurze dunkle Haar. Im Nacken war es feucht, ihr T-Shirt klebte am Rücken. Sie kniff die Augen zusammen und drückte ihre Zeigefinger gegen die Lider, bis bunte Punkte und Muster auftauchten wie surreale Lichtreflexe.

 Sie ließ die Hände sinken, blinzelte und wartete ab, bis sie im Dämmerlicht die vertrauten Konturen erkennen konnte; das Fernsehgerät auf dem kleinen Regal, die Grünpflanze in der Ecke vor dem Fenster und die Umrisse des Kleiderschranks.

 Müde schaute sie zum Wecker. Bis er klingelte, dauerte es noch eine halbe Stunde. Obwohl es noch so früh war, drang bereits die Morgendämmerung an den Seiten des Verdunkelungsrollos durch. Es schien wieder ein sonniger Tag zu werden. Für Mai war das Wetter direkt sommerlich gewesen in der letzten Woche und laut dem Wetterbericht sollte es zumindest noch bis zum nächsten Tag so bleiben. Vielleicht sogar länger. Doch in diesem Jahr gelang es dem schönen Frühlingswetter nicht wie sonst, Kristinas Laune zu heben.

 Sie hörte ein leises Schnarchen neben sich, vermischt mit kurzen Grunztönen, und wandte den Kopf. Stephan lag auf dem Rücken, der nackte Oberkörper war unbedeckt, das Gesicht völlig entspannt. Er sah so friedlich und unschuldig aus. Kristina musste bei dem Anblick lächeln. In Momenten wie diesen war er ihr fast so nah wie früher.

 Sie seufzte leise, legte sich wieder hin und starrte an die Decke. Gewiss würde sie nicht mehr einschlafen können. Statt sich in den nächsten dreißig Minuten unruhig herumzuwälzen, konnte sie genauso gut aufstehen. Vorsichtig, um Stephan nicht zu wecken, schlug sie die Decke zur Seite, setzte sich auf und verließ leise den Raum.

 Kurz darauf durchzog anregender Kaffeegeruch die Küche. Kristina saß mit einem dampfenden Becher am Esstisch und starrte vor sich hin.

 Die Morgensonne tauchte den Raum in warmes Licht. Klitzekleine Staubpartikel tanzten in den Sonnenstrahlen. Auf der Eiche vor dem Fenster zwitscherten ein paar Vögel ihre morgendliche Ouvertüre, von Ferne war ein vergnügtes Lachen zu hören und das übermütige Bellen eines Hundes.

 Auf dem Tisch lag der Brief, den Jan ihr im März geschickt hatte. Sie erinnerte sich, dass noch tiefer Schnee gelegen hatte. Ein harter und langer Winter hatte Norddeutschland fest im Griff gehabt. Sie überflog das vor ihr liegende Schreiben noch einmal, obwohl sie es mittlerweile fast auswendig kannte.

 Es sei ihm und Yvonne unheimlich wichtig, dass sie und Stephan zu ihrer Hochzeit kämen, schrieb Jan. Er wolle sich unbedingt noch bei Stephan entschuldigen und hoffe, dass sie wieder zurückfinden würden zu der Freundschaft, die sie einst verbunden hat.

 Das sagt sich alles so einfach, dachte Kristina bedrückt und nippte an ihrem Kaffee, doch genau das ist es leider nicht.

 Zu dem Zeitpunkt, als Jans Brief angekommen war, schien es noch eine Chance für Stephan und sie zu geben. Ihr Verhältnis zueinander war beinahe wieder normal gewesen. Sie hatte schon erleichtert aufgeatmet. Zu früh, wie sich herausstellte. Der Brief riss die fast verheilte Wunde wieder auf und inzwischen hegte Kristina große Zweifel, dass es zwischen Stephan und ihr je wieder so werden könnte, wie es früher gewesen war.

 Ihre Bitte, Jans Einladung anzunehmen und nach Berlin zu fahren, hatte die Sache nicht gerade besser gemacht. Stephan verspürte nicht das geringste Bedürfnis, zur Hochzeit zu fahren. Er war noch immer verletzt und wollte Jan keinesfalls wiedersehen. Kurzzeitig hatte Kristina dann auch darüber nachgedacht, abzusagen und die Reise nicht anzutreten. Doch Stephans ständige vorwurfsvolle Miene und seine schlechte Laune riefen irgendwann Trotz in ihr hervor.

 Sie war es satt, zu Kreuze zu kriechen. Außerdem wollte sie nach Berlin. Sie freute sich auf Jans unbekümmertes Grinsen, auf Yvonnes Herzlichkeit, auf Marius ruhige, freundliche Art und vor allem auf Svenja, der sie mehr vertraute als sonst jemandem.

 

Am vergangenen Abend hatten Stephan und sie erneut diskutiert - nein, vielmehr gestritten - und schließlich hatte sie wütend gesagt, wenn er nicht mitwolle, könne er ja zu Hause bleiben. Sie würde auf jeden Fall fahren. Ende der Debatte.

 Und das Ergebnis? Wieder einmal waren sie schlafen gegangen, ohne sich wie früher vorher zu versöhnen. Jeder fühlte sich unverstanden. Sie lagen zwar im selben Bett, doch zwischen ihnen war eine Mauer, so hoch und unüberwindlich wie eine mittelalterliche Festung. Kein Wunder, dass der Traum sie erneut gequält hatte.

 Kristina leerte ihren Becher und vertiefte sich in die Einladung zur Hochzeit. Noch war offen, ob sie allein fahren oder ob Stephan sie begleiten würde. Inzwischen war sie nicht einmal mehr sicher, ob ihr überhaupt daran lag, dass er mitkam.

 »Morgen.« Stephan betrat schlurfend die Küche, in kurzen grauen Shorts und dem ausgewaschenen gelben T-Shirt, das ihn immer so blass und krank aussehen ließ.

 Während sie Jans Brief zusammenfaltete, betrachtete sie ihn. Dunkle Schatten lagen unter seinen Augen. Er hatte offenbar nicht besonders gut geschlafen. Recht so. Sie hatte schließlich auch keine angenehme Nacht gehabt.

 Stephan goss sich ebenfalls einen Kaffee ein, dann setzte er sich ihr gegenüber an den Tisch. Sein Blick fiel auf die Einladung und den Brief. Schweigend sahen sie sich an. Er nippte an seinem Kaffee und räusperte sich. »Ich habe darüber nachgedacht. Wenn du unbedingt hinfahren möchtest, dann komme ich eben mit.«

 Sie wunderte sich über die Sinneswandlung, zuckte aber nur mit den Achseln. »Wie du willst.«

 Stille. Eine einsame Fliege schwirrte umher, ansonsten war nur das Geräusch der Küchenuhr zu hören und das Zwitschern der Vögel im Vorgarten.

 »Es ist dir egal, oder?« Er bemühte sich sichtlich, seine Erschütterung über diese offensichtliche Tatsache vor ihr zu verbergen, doch sie kannte ihn zu gut, als dass es ihr entgangen wäre.

 Sie hob das Kinn und sah ihn geradewegs an. »Ganz ehrlich? Ja. Es ist mir gleich. Denn so, wie es im Moment zwischen uns beiden läuft, wäre eine Pause vielleicht sogar ganz gut.«

 »Das könnte dir so passen!« Stephan stand so abrupt auf, dass die Stuhlbeine auf dem Fliesenboden einen misstönenden Laut erzeugten. Er lehnte sich an die Arbeitsplatte, funkelte sie wütend an und verschränkte die Arme. »Damit du dich ungestört mit Jan auf irgendeinem Teppich wälzen kannst. Oder mit einem anderen. Vergiss es!«

 Kristinas Hände, die sie um den leeren Kaffeebecher gelegt hatten, verkrampften sich, so dass ihre Fingerknöchel weiß hervortraten. »Zum hundertsten Mal: Ja, ich habe einen Fehler gemacht. Und ich habe dafür bezahlt, verdammt noch mal! Seit Monaten lässt du mich am ausgestreckten Arm verhungern, egal wie oft ich dich um Verzeihung gebeten habe.«

 Er schwieg. Traurig schaute sie ihn an. »Ich kann nicht mehr, Stephan. So geht es nicht weiter. Entweder, du kommst langsam darüber hinweg und gibst unserer Ehe noch eine ernsthafte Chance, oder wir müssen den Tatsachen ins Auge sehen.«

 Seine Augen wurden schmal. »Redest du von Scheidung?«

 Sie lehnte sich auf dem Korbstuhl zurück und nun war sie es, die die Arme verschränkte. »Zumindest von einer räumlichen Trennung, ja. Denn wenn es so zwischen uns weitergeht, macht es uns beide früher oder später kaputt.«

 Stephan schnaubte und riss empört die Arme hoch. »Entschuldige vielmals, dass ich nicht gleich wieder zur Tagesordnung übergehen kann, wenn du dich nackt mit deinem alten Freund auf einem Teppich herumwälzt wie eine billige -«

 »Das reicht!« Kristina stand auf, so schnell, dass ihr Stuhl um ein Haar umgefallen wäre. In scharfem Ton fuhr sie fort. »Ich habe keine Kraft mehr für diese müßigen Streitereien. Und jetzt entschuldige mich, ich muss die Kinder wecken. Wenn sie von dem Lärm noch nicht aufgewacht sind.« Ohne ein weiteres Wort rauschte sie an ihm vorbei und verließ den Raum.

 Nachdem Marco und Leonie ihr verschlafen versichert hatten, sie würden gleich aufstehen, verdrückte sich Kristina ins Bad. Dort starrte sie in den Spiegel.

 Sie hatte alles kaputt gemacht. Hatte sich von Jan einlullen lassen wie eine fünfzehnjährige graue Maus, die um Aufmerksamkeit buhlte. Wollte einmal im Leben nicht vernünftig sein. Und was hatte es ihr gebracht? Immer wiederkehrende Alpträume von dem Moment, in dem ihr Mann sie in flagranti erwischt hatte, und eine Ehe, die auf der Kippe stand, so sehr, dass sie fast Bodenkontakt hatte.

 Tief in ihrem Inneren ahnte Kristina, dass das Wochenende bei Jan und Yvonne eine Entscheidung bringen würde. Entweder wäre danach alles vorbei, oder sie und Stephan würden wieder zueinander finden. Im Augenblick war sie geneigt, von Ersterem auszugehen.

(...)

LESEPROBE ENDE